Es ist nun, da ich diese Zeilen schreibe, meine Freizeitassistenz schon seit knapp einen Monat vorbei. Doch ist dies noch nicht in jeder Zelle meines Körpers angekommen. Denn ich erinnere mich noch ganz genau an die sieben Tage der ersten 11 Juni-Tage, in denen Theresa und ich noch die letzten Tätigkeiten unserer Assistenz durchführten. Der folgende Bericht soll zeigen, wie es dabei zuging:
Es ist Samstag, der 10.6.2017.
Dies ist der Moment, in dem ich endlich richtig auftauen darf: Es wartet das Fest der Nachbarschaft im Nibelungenviertel, bei dem integration wien immer mit dabei ist! Es ist jenes große Fest, welches ich bereits zweimal in den letzten beiden Jahren besuchen durfte. Und diesmal würde eine große Aufgabe auf mich warten, so viel stand schon einmal fest! Welche? Die für mich schwierigste: Zu fühlen. Einfach nur zu fühlen. Wie noch nie zuvor? Was denn genau? Die Dinge der „Fühl-Station“.
Aufgebaut waren diesmal nämlich Stationen zum Thema „5 Sinne“ (eigentlich hat der Mensch insgesamt 21 Sinne, aber nun gut?!) im Rahmen eines „Sinnes-Parcours“.
1.) Es gibt das Thema Sehen: hier muss man mit verbundenen Augen einen Ball ins Tor treffen.
2.) Beim Thema Riechen muss man selbstredend aus dem Gedächtnis Düfte aus Dosen erkennen (Gott sei Dank hatte ich damals keine Bohnen gegessen, welche das Ergebnis hätten verfälschen können). Übrigens: ich erkannte genau 6 von 8 Düften, was ja wohl sehr gut ist.
3.) Beim Thema Schmecken ging es darum, unterschiedliche Fruchtsäfte unterscheiden zu können. Hier lernte ich Katharina kennen. Nein, nicht die alte: Diese war zwar auch anwesend und freute sich über die Urkunde, welche sie von mir erhielt. Aber diese – übrigens blonde! – Katharina ist eine Dame, die als Schiedsrichterin einen perfekten Job gemacht hat (auch, wenn ich durch ihre Pedanterie nur zwei von sechs Punkten erhalten hatte) – und auch als Kellnerin! Denn eine junge Dame kam doch tatsächlich als richtiger Gast zu ihr und meinte ganz nonchalant: „Ich hätte gerne einen Apfelsaft!“.
4.) Hören war das einzige, was ich an diesem Tag leider nicht konnte. Und das nicht nur, weil ich noch nicht beim HNO-Arzt gewesen war, sondern auch, weil ich leider keine Zeit mehr hatte, bei Simone´s großer Herausforderung mitzumachen.
5.) Und schließlich die Station, bei der man zu tun gezwungen ist, was man nie täte, hätte man vorher gehört: Fühlen. Theresa und ich teilten uns den Stand, wir hatten die Aufgabe, Säcke mit diversen Gegenständen vollzupacken und dann andere diesen Inhalt fühlen zu lassen. Pro Gegenstand bekam man einen Punkt, außer bei jener Tasche, in welcher man vier Früchte fand. Somit hatten wir hierfür also vier Punkte zu vergeben. Interessant war, dass mehrere Leute tatsächlich die volle Punktezahl schafften! Ich versprach ihnen einen Preis – ohne darüber nachzudenken, wie genau die Preisverleihung nun gemacht werden könnte.
Zur Erinnerung: Letztes Jahr erhielt ich für meine Rollstuhlleistungen beim Rolli-Parcours eine DVD mit dem Titel „Was wir nicht sehen“. Soll heißen: Die Radiowellen, die man nicht sieht. Also die Wellen um uns herum. Genauso wenig sah ODER hörte ich damals aber Maggie und Vera, die vor mir gewesen wären. Nur so konnte ich den Preis ergattern. Dieses Mal war es schon wesentlich schwieriger, da man entweder beim Sinnes-Parcours seine Leistung unter Beweis stellen musste, was recht schwierig war – oder beim Minigolf-Turnier. Denn ausgerechnet bei den Bäumen, zwischen den niedrigen Zäunen, hatte man einen provisorischen Parcours aufgebaut.
Theresa und ich hatten jedoch nicht viel Zeit, darüber nachzudenken. Denn nun galt es, ihre Schwester abzuholen. Ja, wirklich: Ausgerechnet diese würde nun in Wien, als Nesthäkchen der Familie, auftauchen, um ihre liebe Theresa zu besuchen. Schnell lasse ich mir noch erklären, wie ich mit ihr umzugehen habe – genauer mit Franziska, denn so heißt sie. Denn unsere liebe kleine Franzi kennt sich natürlich im Großstadtdschungel nicht aus. Deshalb stelle ich mich mit Theresa ganz stramm und still bei der Stadthalle hin, um sie zu empfangen. Und wer winkt uns denn da entgegen? Ach, eine Blondine von 15 Jahren, mit Haaren wie ein güldener Wasserfall und mit Augen wie Sterne am Firmament – ach, ich will gar nicht hinschauen vor meiner Assistentin! Allerdings: Als ich Franziska die Hand schüttle, erfolgt eine telepathische Botschaft an sie: „Wann bitte wirst du nochmal 16?“.
Viel länger kann ich jedoch nicht darüber nachdenken, denn nun erfolgt ein kleiner Vortrag meinerseits über das Nibelungenviertel und die Stadthalle, um unseren neuen Gast genau einzuweisen. Und tatsächlich scheint Franziska vom Viertel so begeistert zu sein, dass sie sich doch glatt zum Minigolf breitschlagen lässt. Schwungvoll zeige ich ihr, wie solche Hindernisse wie Bäume, scharfe Kurven und Netze zu überwinden sind: Indem man sich nicht darum kümmert! Zweier-Schüsse, Dreier-Schüsse und sogar ein unglaublicher Hole-in-one! Die Situation ist fast gleich wie jene im Museumsquartier letzten Freitag. Lukas kommt als Zeuge hinzu. Er kennt als neuer Freizeitassistent ebenso wenige Leute wie der brandneue Christopher, der erst an diesem Tag hinzugekommen ist, und möchte uns durch eine gemeinsame Partie näher kennenlernen. Auch die Umgebung um sich herum. Dass am Ende eine Kindergruppe bei uns herumturnt und zusätzlich ein Krampf unsere Partie erschwert, ist natürlich eine andere Sache.
Und wie wird man einen Krampf am besten los? Natürlich: Bei einer Massage! Und so kommt es, dass ausgerechnet bei einem Zelt, dass explizit hierfür aufgebaut wurde, ein älterer Herr mit zwei Damen bereitsteht – um uns einfach durchzukneten. Mit sanften, mit kreisenden und mit gezielten Bewegungen. Nicht umsonst heißt auch das Wort „Massage“ auf Arabisch: „Berührung“ (so wie übrigens das Wort „Sorbet“ einfach „zur Hälfte Gefrorenes“ bedeutet, aber das nur am Rande). Das Traurige dabei: Auch hier steht man an, obwohl es keine Warteschlange gibt. Denn diese Einheiten können schon dauern.
Und dann, plötzlich, als ich mich extrem zu vertiefen versuche, ertönt ganz laut mein Name: „Leo-Ledo-LÄDOLDIS?“. Ein Blitz durchzuckt mich: Mein Rekord beim Riechen! Es waren immerhin 6 von 8 richtigen Versuchen! Und so muss ich selbst zum Blitz werden: Ich rase wie von Furien gehetzt nach vorne zum Pult. Sowohl die Sprecherin als auch Sabine, welche als Vertreterin dabeisteht, reißen Augen und Münder auf, als sie mich in einer Staubwolke abbremsen sehen. Mit letztem Atem keuche ich lautstark: „WAS GIBT ES NUN?“. Mit starrem Blick öffnet die Moderatorin einen Sack. Und da drin liegt: Ein „Vier-Gewinnt“-Spiel. Nichts Aufregendes, aber immerhin etwas zum Vorzeigen. Und so verschwindet der rote Blitz, ebenso schnell, wie er gekommen war, in einer Staubwolke.
Umso besser, dass endlich die Masseusen nahezu antanzen – zumal ich ja kaum mehr stehen kann! Doch eine schlechte Nachricht gibt es trotzdem: Da der Leiter schon zusammenpackt, gibt es nur Platz für zwei. Ich denke, Sie sehen nun, worauf es hinausläuft: Franziska darf als die Jüngste natürlich gerne auf einem kleinen Klappstuhl Platz nehmen. Doch was könnten die Assistentin und ihr Klient nun am besten tun? Wir beide erkennen, dass unsere Streitereien offenbar doch einen Sinn hatten: Wie in einem Drama strebt alles nach einem Klimax. Wie bei Othello, als er seine Frau tötete. Wie die Zerstörung des Todessterns in „Star Wars“. Und sogar bei Gemälden wie der „Geburt der Venus“. Was das alles für uns heißt? Nun, während ich das Gefühl habe, dass ein Mundharmoniker-Spieler hinter uns bereits die ersten bedrohlichen Töne angesetzt hat und ein großes Bündel Gras durch den Platz fliegt, und wir beide uns dazu gezwungen sehen müssen, uns ein grün-weißes bzw. violettes T-Shirt anzuziehen, um sich wie Austria und Rapid auf gut Wienerisch gesagt in der „Einserpanier g‘scheit in die Goschn zu haun“- da geschieht plötzlich etwas ganz und gar anderes.
Theresa wirft ihrer Schwester plötzlich einen Blick zu, der verrät: Sie kennt die Unsicherheit ihrer Schwester. Deswegen braucht sie ein Idol. Während sich die Lage wieder zu entspannen scheint, guckt sie als nächstes mich an und macht einen so altruistischen Akt, dass ich bis heute extrem stolz auf sie bin: „Geh du!“, meint sie mit einem Lächeln. Erstaunt und erfreut zugleich, schaue ich sie wortlos an. Doch sie nickt nur. Und so setze ich mich erfreut neben Franziska – und genieße die wohl beste Massage meines ganzen Lebens.
Es gibt Momente im Leben, in denen sich diverse Dinge offenbaren. Und damit meine ich nicht nur die Zartheit der Hände von den Damen. Was ich sagen möchte ist: Wie sehr ich in den letzten Wochen und Monaten mein Leben offenbar von Grund auf verpfuscht habe! All diese Ängste, diese Wolken über meinem Kopf, diese Gewitter – wozu? Die Welt besteht aus Bäumen, Vögeln und Sonne! Und das nicht einmal unmittelbar durch die sonnige, goldene Aura der Frauen: Es ist einfach das Lachen der Kinder, der sanfte Wind, der liebliche Klang der Musik – Moment, Musik? Das muss ich doch näher untersuchen…
Erst als ich wieder stehen kann, genieße ich den Fluss des Wassers aus meinem Inneren. Ich höre die Musik nun wesentlich lauter und genauer. Und als ich mich gerade diesen Wellen hingeben will, da höre ich plötzlich einen ganz lauten Schrei: „HURRICANE!“. Erschrocken drehe ich mich um. Da sehe ich doch plötzlich die „Monkeys of Earth“. Jene Band, welche Antti und Eugen selbst groß gemacht haben. Und von denen ich mir erst hier und heute ein T-Shirt gekauft habe. Und ich sehe die Sängerin, die mit weit aufgerissenen Augen improvisiert: „Rock…Rock…HURRICANE!“. Ich liebe sie gerade wegen dieser Art, die sie auch bei Fans so extrem beliebt gemacht hat. Dann gibt es noch den guten alten Philipp am Bass, sowie die gute, alte Laura am Keyboard, die trotz ihrer Blindheit umso perfekter spielen kann. Dann noch der Schlagzeuger und der Gitarrist und Background- Sänger, der auch als Bandleader gelten kann. „Wo ist die Pommesgabel?“, ruft er in die Menge. Und alle rocken mit.
Und als schließlich Verena auf die Bühne kommt, um das Bandjubiläum zu feiern, da wird mir eine Sache bewusst: Auch ich wurde neu geboren. Und das nicht nur wegen der Massage – sondern auch wegen der fünf Jahre, die ich hier bei iwi in der Freizeitassistenz verbracht habe. Und morgen wird sich entscheiden, was ich sehe, wenn ich das letzte Mal mit meiner Assistentin weggehe. Und dann werde ich mich selbst im Spiegel sehen müssen. Um mich zu fragen: Was habe ich erreicht und was nicht? Wir werden sehen…
Matthias Ledoldis, Nutzer der Freizeitassistenz bei integration wien